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Wir müssen hier nach links

Es reicht. Ich blicke auf die Karte, und ich blicke hoch, und um mich rum – und sehe: Wir sind an einem ganz falschen Punkt angekommen. Es überrascht mich nicht, denn wir fahren jetzt lange genug in die falsche Richtung. Ich bin trotzdem zutiefst unglücklich.

Nicht nur, weil ich am Wegesrand verzweifelte Menschen sehe. Nicht nur, weil einige davon meinem Herzen am nächsten stehen. Sondern weil wir alle, verdammt noch mal, zu wenig tun! Und dabei habe ich das Gefühl, ich hab doch so oft appelliert an alle um mich herum. Ich hab doch so oft versucht, Menschen zu helfen, die viel mehr kämpfen müssen als ich. Ich hab doch gesagt und geschrieben und ...

Und ich kenn doch auch das schlimme Gefühl, wenn Diskriminierung wie ein Hammer auf mich niedersaust, mitten in einer Alltagssituation. Ich weiß, wie ekelhaft sich das anfühlt und wie bedrohlich … wenn ich es auch sicher niemals, niemals in dieser Konsequenz erlebt habe. Soweit ich mich erinnere, ging es bei mir nur um Jobs oder persönliche Ablehnung, um strukturelle Benachteiligungen und hundertfach gehörte Klischees. Das war auch – je nach Situation – alles schon schmerzhaft, existenziell oder nervig genug. Aber immerhin ging es nie um die Frage, ob ich weiter hier leben soll.

Ob ich weiterleben soll.

Und das Ding, in dem ich sitze, in dem wir alle sitzen, biegt weiter rechts ab, obwohl doch die Plakette in der Windschutzscheibe so deutlich sichtbar ist: „gegen rechts“. Die Plakette ist regenbogenbunt und sieht richtig schön aus. Eigenartig, dass sie so wenig bewirkt. So wenig wie ich selbst offensichtlich.

Denn ja: Ich hab oft was gesagt, ich hab was geschrieben, ich hab mich überwunden und hab mich (und andere) in unangenehme Situationen gebracht. Ich habe Menschen geholfen, ich habe versucht, was in meiner Macht stand in dem Moment. Ich hab’s doch versucht.

Aber hab ich wirklich ins Lenkrad gegriffen?

Ganz ehrlich: Ich hab schon auch mal geschwiegen (es fiel wegen meiner fehlenden Impulskontrolle nicht immer ganz leicht, aber unterm Strich: es geschah mehr als einmal). Aus Resignation. Aus Erschöpfung. Aus dem Gefühl heraus, in dem Moment jetzt wirklich keinen Bock zu haben auf diesen Kampf. Aus Angst vor dem unbequemen Schweigen, das meinem Kommentar folgen wird. Oder vor dem Streit. Vor der unangenehmen Situation. Oder aus Angst vor der endgültigen Gewissheit, dass das, was da gerade gesagt wurde, gar nicht aus Versehen war, sondern dass da was dahintersteht: die Meinung, dass manche Menschen mehr wert sind als andere. Und dass ich gerade einfach nicht hören, sehen und gezwungenermaßen begreifen will, dass mein Gegenüber das wirklich so meint. Ich hab manchmal geschwiegen. Weil ich dachte: Jetzt nicht, ich hab jetzt gerade wirklich keine Kraft mehr – und es bringt ja auch nix.

Und ich seh meine Tochter und meinen Schwiegersohn und dessen Eltern. Und ich sehe R. und S. und F. und so viele Menschen … Sie alle haben nie die Möglichkeit, zu entscheiden, ob sie heute die Kraft haben. Sie werden aus dem Nichts getroffen. Und sie lachen den Schmerz weg und die Angst, sie schweigen sie weg, und sie bewähren sich, wissen, dass sie immer mehr und mehr und mehr bieten müssen. Und sie versuchen, zu bieten, was diese weiße Gesellschaft von ihnen gern sehen will. Sie müssen sich permanent diesem Mist aussetzen, der sie trifft im Alltag. Mitten im Gespräch. Mitten im Glücksmoment. Mitten in der Traurigkeit. Im Nachdenken. Beim Einkaufen, beim Nachhause-Gehen, Rausgehen, Joggen, Tanzen, Dasitzen, Geldabheben, ihren Job machen, Träumen … Mitten in irgendwas. Wie ein Hammer aus dem Nichts. Immer öfter. Immer direkter. Immer offener.  

Und wir? Ja, ich meine mich. Und dich. Ich meine uns. Wir weißen Menschen, die „gegen rechts“ sind. Lass uns ehrlich sein. Egal, auf welchem Level und wie oft: Wir schauen weg, wenn‘s möglich ist. Wir hören weg. Wir überhören, „verpassen“, wissen gerade nicht, was wir da antworten sollen … Wollen ja auch nicht die Situation unnötig eskalieren, mh? Und ja: Ich will auch nicht die sein, die immer die Geburtstage und Hochzeiten anderer Leute ruiniert. Aber machen wir uns nichts mehr vor: Irgendwer bezahlt den Preis dafür, dass wir alle doch meist stillschweigend unseren Kuchen schnurpsen, und jetzt nicht diskutieren – mit dem netten, aber womöglich eher etwas rassistischen Nachbarn, dem so bissl konservativen Freund der Freundin, der lieben Arbeitskollegin, die sich gerade etwas überraschend als doch politisch etwas … anders verortet, dem frustrierten Vater mit der kurzen Zündschnur, der neoliberalen, erfolgreichen Nichte, dem jovialen Chef, dem Onkel am Kaffeetisch, bei dem es ja eh nix mehr bringt, zu widersprechen … oder wem auch immer. Weil gerade die Situation nicht passt, weil wir heute bisschen low energy haben und etwas auf unsere mentale Gesundheit achten müssen, oder weil es ja eh nichts bringt, und immerhin waren wir letzten Monat erst auf der Demo gegen rechts und auch so tun wir ja meistens … naja, irgendwas halt, was auch mal reichen muss, ne? Wir kennen die Ausreden, die wir uns selbst erzählen, es sind viele.

Aber wenn wir selbst uns dem nicht stellen, bezahlen die, die nicht das Privileg haben, wegzuschauen. Und einige haben schon mit ihrem Leben bezahlt. Ist uns das unser Weggucken wert und das bisschen Ruhe, das wir uns so noch erkaufen?

„Ich bin nicht rechts“ reicht bei weitem nicht. Sei links. Mit ganzem Herzen. Sei es ganz. Tu alles, was du tun kannst. Jeden Tag. Es geht noch mehr als das, was du bisher getan hast.

Ja, es wird immer noch Situationen geben, nach denen du dir eingestehen musst: da wäre mehr gegangen. Wir werden nie genug getan haben. Es geht immer noch mehr. Morgen können wir immer noch etwas mehr tun. Aber schau, dass du jeden Tag bewusst durch dein Leben steuerst. Und in den tausend Situationen, in denen du dich auf deinem Weg entscheiden musst, bitte denk dran: Es gibt keine Mitte an der Weggabelung, es gibt nur eine Entscheidung – hier lang oder da lang? Links oder rechts?

 

Greif ins Lenkrad. Tu es jetzt. 

 

  

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Kommentare: 2
  • #1

    Katrin (Mittwoch, 12 Juni 2024 07:56)

    Danke, Ina, fürs Rütteln! Danke für deine Worte! Es gibt keine Mitte… das ist leider so wahr!

  • #2

    Christina (Mittwoch, 12 Juni 2024 08:23)

    Durch deine eindringlichen Worte fühle ich mich ertappt und berührt zugleich. Es stimmt: Der Onkel, die Nachbarin, ein alter Studiumskumpel. Und ich hab keine Lust mehr auf Streiten (das war mal bei mir anders). Manchmal fehlen mir aber auch Argumente. Außer „Warum sagst du sowas.“ fällt mir oft nichts ein. Schwierig und bedrohlich zugleich. Vielen Dank für den Appell … und übrigens toll geschrieben (so am Rande).